Die Fabel vom Leitwolf

 

Wenn der Zufall zwei Wölfe zusammenführt,

fühlt gewiss keiner die geringste Beklemmung darüber,

dass der andere ein Wolf ist; aber zwei Menschen können sich nie im Wald begegnen, ohne daß nicht jeder denkt, der Kerl könnte ein Räuber sein.

 

Bereits der junge Wolf hatte bald erfahren, daß das Leben Freude macht. Freude - wenn er den Ton angab. Die anderen sahen in ihm den zuverlässigen, stützenden Wolf, und stets überließen sie ihm gleich vertrauensvoll die erste Stelle im Rudel. Beißen war gar nicht nötig.

Einfach immer neue Ideen, neue Jagdgründe zu finden, zu motivieren das war sein Metier. Seine Meute zu verteidigen war nicht nötig; denn das tat das angeleitete Rudel schon selber.

 

Es gingen aber auch einige Rudel ihrer Wege, als sie genug gelernt hatten, um sich selber zu behaupten. Immer fanden sich aber wieder neue Genossen, die ihm unbesehen die Führung überließen. 

So war das Leben des Leitwolfs; denn so war er es gewohnt.

 

Aber auch ein Leitwolf kann einsam sein, weil ja niemand da ist, der ihm Paroli bieten kann. Der mit ihm um die Wette rennt. Der Leitwolf ohne Anhang fühlte sich nutzlos, überflüssig, einsam. Der einsame, graue Wolf, der nicht so recht wusste was mit ihm los ist.

 

Nur hatte er nie damit gerechnet, aus heiterem Himmel auf einen anderen Leitwolf zu treffen. Er hatte das auch nie erfahren, nicht einmal einen Gedanken daran gehabt, was denn ein Leitwolf sei. Wohl deswegen, weil es ihm nicht einmal bewußt war, daß er selber schon immer ein Leitwolf war. Gespürt hat er jedoch, daß sich die Situation jetzt total geändert hatte. Sein Leben hatte eine total neue Erfahrung gemacht. Eine neue Erfahrung, die ihn ahnen ließ, daß er nicht mehr die Rolle des Leitwolfes allein spielen musste, und auch nicht haben konnte.

 

Immer noch so eingestellt, die erste Rolle gespielt zu haben, durfte er erkennen, daß dieser andere Leitwolf keinesfalls daran dachte, jemals etwas aus seiner Position aufzugeben. Der würde sich nie mit herumschleppen lassen; der konnte und wollte auf alle Fälle allein laufen.

Schlau genug, das zu erkennen, waren beide zwar, aber das Ego zu ändern, das war eine andere Geschichte.

 

Erst als er erkannte, daß sich zwei Leitwölfe auch gut vertragen können, gelang es ihm, sich auf die neue, ungewohnte Situation einzustellen.

Fröhliche Lebenslust machte seinen Lauf wieder federnd.

Er hatte wieder eine Nase, an die er seine reiben konnte.

Und er konnte wieder an einem anderen Fell riechen.

Und seine starken Seiten konnte er wieder vorsichtig zeigen.Ja, er konnte auch wieder wach werden, wach werden durch die Herausforderung des anderen Wolfes.

So wurde ihm aber nicht klar, daß der andere Wolf genau darauf achten würde, wo denn seine schwachen Seiten seien.

So traten seine starken Seiten unbewußt in den Hintergrund.

Das machte ihn sehr traurig und betroffen. Nein, so war er nicht. Gar nicht.

Nun, er nahm es hin als eine Erkenntnis, daß sich zwei starke Wölfe erst einmal richtig beriechen. Herausfinden, wo die Stärken des anderen liegen. Und auch die Schwächen. Es kann ja sein, daß sich beide ergänzen.

 

Als er aber erkannte, daß der andere Leitwolf auch seine Schwächen hatte, freute er sich, da einzuspringen. Einspringen? Ja, dem anderen Wolf ging es schlecht, er konnte nicht mehr ausgelassen sein.

Was hat er da gelockt, gebettelt, animiert, gestützt, gehofft.

Nun komm doch endlich wieder mit mir rennen, mit mir spielen, sei lustig, schau ich bin doch da, ich zeig's dir doch. Mach wieder mit.

Er konnte einfach nicht glauben, nicht wahrhaben was er sah.

Als er aber erkennen musste, daß er nicht helfen konnte, da ging es ihm dann selber schlecht. Auch weil er merkte, daß der andere Wolf seine Hilfe gar nicht haben wollte. Sein Fell wurde wieder grau und stumpf; die Augen niedergeschlagen.

 

Konnte er aber plötzlich aufhören, seinem anderen Wolf Leckerbissen vorzulegen? Etwas, das er sein ganzes Leben lang getan hatte, und was er immer tun würde, weil es seine Natur ist. Nein, das konnte man von ihm nicht erwarten.

Aber wie das wohl bei allen Wölfen so ist, einzeln sind sie zwar stark, aber erst im Rudel unschlagbar.

Eingetretene Pfade können schwer verlassen werden, er gab sich aber Mühe, eben weil er wusste, daß er nur seinen eigenen Pfad zu verlassen brauchte.

 

Jedoch musste er erst mal in diesem für ihn neuen Pfad, in diesen anderen Stapfen, laufen lernen. Dabei wurde er auch hin und wieder weggebissen.

Aber er gab nicht auf; denn auch Wegbeißen gehört dazu.

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